Vom 17. Juni bis 31. Juli 2016 findet das interdisziplinäre Festival RASTER : BETON erstmalig in Leipzig statt. Ein Programm, bestehend aus Ausstellung, Symposium und Kunstprojekten im öffentlichen Raum, lädt alle Interessierten ein, Großwohnsiedlungen zu erkunden, zu hinterfragen und neu zu entdecken. Artpress bekam die Gelegenheit mit der Projektleitung Juliane Richter und Hannah Sieben und der Künstlerin Julischka Stengele zu sprechen – lest selbst was sie uns spannenden erzählt haben.
ARTPRESS Wie entstand die Idee ein Festival zu organisieren das sich dieser sehr speziellen und oberflächlich betrachtet eher unattraktiven Thematik widmet? »Jeder Platz braucht Zeit, um ein Ort zu werden«, sagte der deutsche Architekt Oswald Mathias Ungers. Glaubt ihr, dass Kunst zu der Ortwerdung beitragen kann? Und wenn ja, wie?
Juliane Richter und Hannah Sieben (PROJEKTLEITUNG) : Uns interessiert, wie sich der als geplante und sehr große Siedlung angelegte Stadtteil in den letzten vierzig Jahren individualisiert und verändert hat. Wie entsteht aus einem Platz, der scheinbar ohne Geschichte ist, ein identitätsstiftender Ort? Wie eignen sich ihn die Bewohnerinnen und Bewohner an und werden heimisch? Das möchten wir erforschen, mit künstlerischen Mitteln. Dazu haben wir fünf Residenzkünstler_innen eingeladen, die den öffentlichen Raum auf ganz unterschiedliche Art und Weise bespielen: Mal in Form eines besonderen, performativen Stadtrundgangs, der die scheinbar unwichtigen und oft übersehenen Objekte und Räume fokussiert und sie zu Sehenswürdigkeiten erklärt, wie es Julischka Stengele tut. Oder mittels eines Gedankenexperiments, wie es der Architekt Daniel Theiler erprobt und in die Realität überführt: Was wäre, wenn Grünau keine Großsiedlung, sondern ein Golfplatz wäre? Zugang zum Club des „Grünau Golf Resort“ haben ausschließlich Grünauer_innen. Ein Spiel mit Exklusivität und dem Versprechen von Luxus in einem Quartier, das bis vor Kurzem noch marginalisiert wurde. Bruit du Frigos Kinowagen verspricht eine Perspektiv-Verkehrung und ein unikates Live-Kino-Erlebnis. Folke Köbberling interpretiert eine Plattenbaufassade zusammen mit Anwohner_innen ganz neu und gestaltet sie in Wachs. Und zukunftsgeraeusche schließlich setzen öffentlichen Gemeinschaftstanz einem Prospekt aus Plattenbautypen und ihren jeweiligen Veränderungen und Sanierungsständen entgegen.
Aber Kunst hat mehr Freiräume als geplante Stadtentwicklung beispielsweise. Sie kann herumspinnen, Neues wagen und bewirken, dass man sein Umfeld anders, bewusster, neu wahrnimmt. Zentral ist deshalb für uns, dass die Anwohner_innen Zugang zu den künstlerischen Arbeiten finden und sich als Teil des schließlich entstandenen Werks betrachten. In Workshops und durch gezielte Ansprache von Vereinen binden wir sie mit ein, wir versuchen ein breites Spektrum der Bevölkerung zu erreichen. Jede Arbeit versucht auf ihre Weise, mit den Anwohner_innen zusammen das Kunstwerk entstehen zu lassen. Das ist eine große Herausforderung, wie immer bei partizipativen Projekten. Ob wir es schaffen? Am besten, Sie fragen uns im August noch einmal.
Doch auch für die Besucher_innen ergeben sich neue Sichtweisen. Manche begeben sich im Zuge des Festivals erstmals in eine Plattenbausiedlung. Uns geht es also auch darum, dazu anzuregen, die eigenen Urteile über solche Siedlungen einmal vor Ort zu überprüfen. Und sich mit frischer Wahrnehmung neuen Orten der eigenen Stadt anzunähern.
Welche Bedeutung haben Architektur und Plattenbauten für dich und deine Arbeit? Was hast du in Grünau vor?
JULISCHKA STENGELE (Künstlerin) : Architektur interessiert mich vor allem im Bezug zum menschlichen Körper. Sie gibt vor, wo und wie wir uns aufhalten, bewegen oder verhalten können. Je nachdem wie Raum gestaltet wird, kann er z.B. einschüchternd wirken oder zu sozialer Interaktion einladen. Auch die Frage wem oder was wie viel Raum gegeben wird ist für mich sowohl auf künstlerischer wie politischer Ebene spannend.
Die Arbeit, die ich für Raster : Beton mache, heißt “Sehenswürdigkeiten – Ansichten von Leipzig-Grünau”. Dafür entwickle ich eine alternative Stadtführung, in der ich Dinge, die mir auffallen zu Sehenswürdigkeiten erkläre oder welche erfinde. So haben selbst Grünauer_innen der ersten Stunde die Möglichkeit, die Umgebung mit anderen Augen wahrzunehmen. Ich hoffe, sie interessieren sich für meinen Blick. Außerdem werde ich auch eine Postkartenserie produzieren.
Du bist ja jetzt schon einige Tage vor Ort, gibt es erste Eindrücke? Auch in der Zusammenarbeit?
JULISCHKA STENGELE (Künstlerin): Auffallend ist, dass Grünau seinem Namen tatsächlich alle Ehre macht. Mit so einem Beton : Baum Verhältnis hatte ich nicht gerechnet. Es überrascht mich jedoch, dass die weitläufigen Grünflächen scheinbar kaum genutzt werden. Selbst am 1. Mai habe ich niemanden auf einer Wiese sitzen, picknicken oder spielen gesehen. Auch die Größe des Stadtteils hat mich beeindruckt, der Grünolino braucht fast eine Stunde für die Umrundung!
Kontakt hatte ich noch nicht so viel, aber alle Menschen, die ich bisher getroffen habe, waren sehr offen und freundlich. Ich durfte bei einer Sitzung im Stadtteilladen teilnehmen, wo bereitwillig Informationen mit mir ausgetauscht wurden. Meine Einladung bzw. meine Anfrage an die Grünauer_innen mit mir gemeinsam auf Erkundungsspaziergänge zu gehen oder mir von besonderen Orten zu erzählen, wurde bisher allerdings noch nicht erwidert.
Den Auftakt von RASTER : BETON bildet die Eröffnung der Ausstellung im D21 Kunstraum in Leipzig / Lindenau, am 16. Juni um 19 Uhr. Was erwartet die Besucher?
Juliane Richter und Hannah Sieben (PROJEKTLEITUNG): Mit der Ausstellung eröffnen wir das ganze Festival. Sie findet im D21 Kunstraum in Leipzig-Lindenau statt, einem Ort, der nicht in Grünau ist und daher also noch einmal ein anderes Publikum anspricht und auch eine Brücke nach Grünau schlagen soll. Hier zeigen wir Perspektiven französischer und deutscher, jüngerer Künstler_innen (sie sind alle nicht vor 1974 geboren) auf Großwohnsiedlungen und Plattenbau. Es werden Arbeiten gezeigt von Margret Hoppe, Laurent Kronental, Anne-Valérie Gasc, Ginan Seidl und Ray Peter Maletzki sowie von Andrea Pichl, die für die Ausstellung eine Installation entwickelt, die sich mit der Architektur Grünaus auseinandersetzt. Die Künstler_innen werden vor Ort sein, es wird hoffentlich ein schönes Fest.
Was für Aktionen gibt es neben den Rundgängen mit Julischka Stengele? Was für Möglichkeiten des Mitmachens? Könnt ihr uns eine Auswahl an weiteren Höhepunkten nennen?
Juliane Richter und Hannah Sieben (PROJEKTLEITUNG) : Ein Höhepunkt ist das zweitägige Symposium am 24. und 25. Juni. Der Freitag ist eher erlebnisorientiert, es können auf Touren und zu einzelnen Veranstaltungen die entstandenen Projekte der Residenzkünstler_innen besucht werden können. Ein Schnupperkurs Golfen und eine Ausstellung zum Golfen in der DDR im Clubhaus, eine Sightseeing-Tour mit Julischka Stengele, eine Fahrt mit dem Kino-Wagen von Bruit du Frigo, Tanzen mit zukunftsgeraeusche und ein Werkstattbesuch bei Folke Köbberlings Arbeit in der Alten Salzstraße 51 stehen auf dem Programm. Am Nachmittag folgt ein Künstlergespräch und abends ein Vortrag von Wolfgang Kil. Am 25. Juni wird es eher theoretische Vorträge und Diskussionen in der Völkerfreundschaft, einem Veranstaltungsort in Grünau, geben. Referent_innen sind Simone Hain, Ines Weizman, David Crowley, Annie Fourcaut, Dieter Hassenpflug und weitere.
Als weitere Programmpunkte gibt es einen Kunstvermittlungsworkshop, bei dem Schüler_innen mit den Künstlern Franziska Pierwoß und SISKA einen Super-8-Film drehen. Und wir zeigen eine dreiteilige Filmreihe mit französischen und deutschen Filmen, die in Großwohnsiedlungen spielen. Als Screening-Locations haben wir besondere Orte ausgesucht – ein öffentlicher Garten, ein Kunstraum, eine Halfpipe. Dazu gibt es noch eine Reihe von Satelliten-Projekten, die wir nicht selbst organisieren, aber die wir in unser Programm mit aufnehmen. Zum Beispiel ein Theaterprojekt, eine Radtour oder ein Workshop mit Kindern.
Bei allen Projekten kann man auch im Vorfeld bereits mitmachen und sie werden bis in den Juli hinein weitergeführt. Dazu sollte man immer mal wieder unsere Website raster-beton.de und die Facebookseite https://www.facebook.com/rasterbeton/?fref=ts besuchen oder auf Aushänge achten. Wir sind ab Mai dienstags und sonnabends, zwischen 15 und 19 Uhr, auch in unserer Festivalzentrale in der Stuttgarter Allee 4 persönlich anzutreffen. Im Juni dann natürlich häufiger. Wir freuen uns über Besuch, bei dem man Kaffee trinken, in Büchern blättern und mit uns sprechen kann.
Vielen Dank!