Luther und die Avantgarde – Zeitgenössische Kunst in Wittenberg, Kassel und Berlin

Zum 500. Jahrestag des folgenreichen Thesenanschlags eröffnet am 18. Mai das Ausstellungsprojekt LUTHER UND DIE AVANTGARDE. Zentraler Ausstellungsort ist das Alte Gefängnis in der Lutherstadt Wittenberg, in dem sich 66 Künstler mit impulsgebenden Gedanken der Reformation auseinandersetzen; u. a. werden Arbeiten von Ai Weiwei, Christian Boltanski, Monica Bonvicini, Olafur Eliasson, Richard Jackson, Markus Lüpertz, Jonathan Meese, Luise Schröder, Pascale Tayou und Günther Uecker zu sehen sein. In Kassel eröffnen zeitgleich Shilpa Gupta und Thomas Kilpper eine Ausstellung in der Karlskirche. In Berlin präsentieren die Briten Gilbert & George ausgewählte Fotoarbeiten in der St. Matthäus-Kirche am Kulturforum.

Realisiert wird die Ausstellung mit einem international tätigen kuratorischen Team, darunter Peter Weibel (Direktor Zentrum für Kunst und Medientechnologie), Dan Xu (Kunsthistorikerin) und Dimitri Ozerkov (Leiter Moderne Kunst, State Hermitage Museum, St. Petersburg). ARTPRESS sprach mit Walter Smerling (Vorsitzender Stiftung für Kunst und Kultur, Bonn und Sprecher des Kuratoriums), Susanne Kleine (Kuratorin, Bundeskunsthalle, Bonn) und Kay Heymer (Leiter Moderne Kunst, Stiftung Museum Kunstpalast, Düsseldorf)  über die Ideen, Impulse und Inhalte der Schau.

Die Ausstellung kann mit einer hochkarätigen, international besetzten Künstlerliste aufwarten – wie haben die Künstler weltweit auf Ihre Anfrage reagiert, an der Ausstellung teilzunehmen? 

Walter Smerling: Größtenteils offen und interessiert. Ich war selbst überrascht, in welchem Maße auch eingefleischte Atheisten oder Künstler aus nicht-christlichem Umfeld auf unser Thema angesprungen sind. Luthers kritischer Geist und seine klare Haltung sind Anlass genug, die eigene künstlerische Position in Bezug auf gesellschaftliche Fragen zu artikulieren. Und die Tatsache, dass wir nicht in einen typischen Ausstellungsraum gehen, sondern die Ausstellung im Gefängnis und in zwei Kirchen zeigen, hat viele Künstler zusätzlich motiviert.

Gilbert & George: ASTRO STAR 2013, aus der Serie „Scapegoating Pictures“ © Gilbert & George

Welchen besonderen Fokus setzen Sie auf die Thematik der Ausstellung?

Susanne Kleine (SK): Wir haben für die Ausstellung Künstlerinnen und Künstler gebeten zu grundlegenden gesellschaftlichen Anliegen kritisch Position zu beziehen und assoziativ Facetten aus dem Luther’schen Wirken aufzugreifen. So führt die Auseinandersetzung mit Themen wie Freiheit, Individualität, soziale Konfliktfelder, die Kraft der Kommunikation und die Notwendigkeit von Sprache zu künstlerischen Reflexionen. Als autonome Einzelwerke haben die ausgewählten Arbeiten eine überzeugende, intellektuelle, visuelle und auch poetische Kraft; dennoch wirken sie auch dialogisch im Netz der verschiedenen Erzählungen innerhalb der Ausstellung. Im Zusammenspiel sind sie ein Kaleidoskop zeitgenössischer Kunst als Spiegel gesellschaftlicher Beobachtungen.

Welche Impulse hat Luthers Wirken als Reformator bis heute auf die internationale Kunst?

Kay Heymer (KH): Neben der Bedeutung Luthers als Sprachschöpfer und erster Bestsellerautor der Geschichte ist bis heute sicher sein Appell wirksam, dass jeder sein eigener Priester sein solle, d. h. dass jeder Mensch aufgefordert ist, selbst seinen Glauben und seine Existenz zu reflektieren. So inspirierend dieser Aspekt des lutherischen Denkens ist, so verstörend sind seine Einstellungen zu den Bauernkriegen, den Türken und besonders auch sein Antijudaismus.

SK: Die Ausstellung nimmt das Wirken und die Auswirkungen Martin Luthers zum Anlass, sich mit zeitgenössischer Kunst zu befassen, die einen innovativen, gesellschaftlich relevanten Ansatz hat, sich durch den Willen nach Veränderung und durch Entwürfe von künstlerischen Utopien und Visionen auszeichnet. Martin Luther steht hier nicht als historische Person im Vordergrund, sondern als ‚Modell’ für eine progressive Haltung, die sich durch Widerstand gegen die damalige vorherrschende Meinung, Kirche und Politik auszeichnet. Diese Haltung kann bis heute auch maßgeblich für die Kunst sein.

Shilpa Gupta I keep falling at you, 2010/2017 Klangskulptur, Mikrofone, Lautsprecher, Mehrkanalton Installation ca. 380×130×200 cm © Shilpa Gupta

 

Massimo Ricciardo und Thomas Kilpper “Inventuren der Flucht”, 2015-17 (fortlaufend), Sammlung von in Sizilien und Lampedusa gefundenen Objekten von angelandeten Flüchtlingsbooten Courtesy: die Künstler und Galerie Nagel Draxler, Köln Berlin und Patrick Heide Contemporary, London

Welche Debatte(n) wünschen Sie sich mit dieser Ausstellung anzustoßen?

SK: Die Kunstwerke machen auf Missstände aufmerksam und stellen Fragen – subtil oder offensichtlich. Sie fordern Achtsamkeit, ein genaues Hinsehen und legen stellvertretend für den Besucher den Finger in gesellschaftliche oder politische ‚Wunden‘. Auch Fragen nach dem Bild/Abbild werden gestellt und die Kraft von Bildern und (Bild-)Sprachen im Kontext von staatlichen oder religiös motivierten Macht- und Moralansprüchen sowie im Kontext der neuen Medien untersucht. Kunst existiert nicht im Elfenbeinturm, sondern im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext, sie trägt durch die Auseinandersetzung mit ihr zur Schärfung der Sinne, zu Toleranz und zur Akzeptanz von Andersartigkeit bei – dies ist, neben dem Kunstgenuss, ein Ziel der Ausstellung.

KH: Gerade in unserer stetig düster werdenden Zeit sollte die Ausstellung in der lebendigen Auseinandersetzung mit Luther zu geistiger Freiheit inspirieren. Die Beiträge der Künstlerinnen und Künstler sollten die Widersprüche, Spannungen und das Faszinierende an dieser Figur und der durch die Reformation ausgelösten kulturellen Veränderungen in unsere Zeit übertragen und erlebbar machen.

Jürgen Klauke Bekannter Unbekannter, 2012/2016 C-Print © Jürgen Klauke, VG Bild-Kunst, Bonn Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln

Mehr als die Hälfte der Werke wurden speziell auf den Ausstellungsort hin konzipiert bzw. ausgewählt oder re-inszeniert. So wird die Kunst in den Zellen, Gemeinschaftsräumen, Treppenhäusern und im Hof des Gefängnisses, auf Litfaßsäulen in der Wittenberger Innenstadt, in Kirchenräumen und auf Kirchtürmen zu sehen sein. Die Künstler deuten den Raum um, das ist ein wesentliches Merkmal der Ausstellung. Von Tafelmalerei bis Performance, von Installation bis Wandmalerei sind alle Medien vertreten. ARTPRESS befragte ausgewählte Künstler der Ausstellung zu ihrem persönlichen Bezug zu Luther.

Luther hat die Welt verändert – was verändert sie heute? Welchen Stellenwert hat dabei die Kunst? Was bedeutet sein Wirken für Sie und Ihre Arbeit heute?

Jürgen Staack: Luther ist Licht und Schatten und hat zeitgleich ein Erbe hinterlassen, welches die Nachwelt verändert hat. Wie kann ich mit meiner Realität und mit unserem ‚Jetzt‘ umgehen und darauf reagieren? In einer Zeit, in der die digitale Flut an Bildern zur Realität erklärt wird, ist Martin Luthers Ausspruch: „Dann ist es besser mit eigenen Augen zu sehen als mit fremden“ absolut aktuell.

Johanna Reich: Kunst spiegelt die Welt, in der wir leben – also auch die geistigen und politischen Unruhen unserer Zeit. Der Moment, in dem Luther die gängige ‚Wahrheit‘ aushebelte, Machtstrukturen in Frage stellte, die bekannte Welt erschütterte, ist ein Augenblick, der extreme Umbrüche auslöste. Hier sehe ich die Parallele zu unserer Zeit – und so frage ich, am Ende der Gutenberg-Galaxis stehend, mit den Mitteln der Kunst nach der Zukunft.

Johanna Reich Resistance (Maite mit Malala Yousafzai), 2016 Poster auf Litfaßsäule © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Mischa Kuball: Nach 500 Jahren zählt nicht die Konsensfähigkeit von Martin Luther, sondern seine Streitbarkeit – in der Methodik wählte er den Weg in die Öffentlichkeit – der öffentliche Luther ist der Katalysator für eine veränderbare Gesellschaft, deshalb interessiere ich mich für die Weiterentwicklung dieses öffentlichen Diskurses.

Günter Uecker: Wir haben die Freiheit, anderen Menschen mit Offenheit zu begegnen. Und diese Freiheit kann eine künstlerische Handlung, ein Bild, eine Skulptur, ein „Die Tür ist offen“ sein.

Das Ausstellungsprojekt LUTHER UND DIE AVANTGARDE wird vom 19. Mai bis 17. September 2017 von der Stiftung für Kunst und Kultur e.V.  in Kooperation mit dem Reformationsjubiläum 2017 und mit Unterstützung der EKD  präsentiert.

Weitere Informationen unter www.luther-avantgarde.de.

 

Keyvisual Luther und die Avantgarde, Art-Design: von Mannstein nach einer Kunstaktion von Bazon Brock

Leave a Reply