Der kanadische Fotograf Normand Rajotte hat über viele Jahre hinweg das bewaldete Gebiet um den Mont Mégantic bei Québec mit der Kamera erkundet. Sein Hauptaugenmerk galt dabei nicht dem Wald als einer Landschaft, sondern vielmehr dem Boden und den dort zu entdeckenden Spuren, welche die Tiere des Waldes hinterließen. Die Serie Comme un murmure (Wie ein Flüstern) bezeugt die sich mit der Zeit entwickelnde Vertrautheit zwischen Fotograf und Natur, in die er sich während seiner Streifzüge regelrecht hinein versenkt. Insbesondere jene Aufnahmen von Tierspuren im feuchten Untergrund erinnern an die bisher nur wenig bekannten und nun erstmals gezeigten Fotografien von Spuren verschiedener Meeresbewohner, die Alfred Ehrhardt zwischen 1933 und 1936 in der Wattregion festhielt.
Die Ausstellung Normand Rajotte: Empreintes / Alfred Ehrhardt: Tierspuren zeigt eine Gegenüberstellung der Arbeiten von Alfred Ehrhardt und Normand Rajotte, die sich beide den Oberflächenstrukturen des Grundes und den dort eingeschriebenen Zeichen tierischen Lebens widmen.
Sowohl Normand Rajotte als auch Alfred Ehrhardt sind Wanderer in der Natur – ob in der Dichte des Waldes oder der Weite des Wattenmeeres. Fährtensuchern und Spurenlesern gleich durchstreifen sie das immer gleiche Gebiet, stoßen auf Tierspuren und verfolgen sie mit ihrer Kamera, die auf den Boden gerichtet festhält, was sich ihnen dort in Nahsicht zeigt. Im Bild gewinnen die Spuren, die sie einfangen, eine graphische Qualität. Wie gezeichnet wirken etwa das Geläuf eines Vogels oder die Bahnen eines Kojoten in Rajottes Schneebildern. Doch nicht immer sind es die physischen Abdrücke der Waldbewohner, die er aufspürt, auch von Bibern abgenagte Äste, in schlammigem Wasser schwimmende Kaulquappen oder eine spiralförmig ins Erdreich gegrabene Röhre werden in seinen Bildern zu Spuren, die das Leben auf und unter dem Waldgrund präsent werden lassen. Seine genaue Kenntnis des Gebiets erzeugt dabei eine Nähe, die sich in seinen Bildern ausdrückt und uns einen intimen Einblick in die Natur gewähren lässt. In Ehrhardts Aufnahmen treten neben die rhythmische Formung des Wattbodens, entstanden im Rhythmus der Gezeiten, Spuren von Möwen, Seehunden und Wattwürmern, deren Strukturen teils rätselhaft abstrakte Züge annehmen. In ihnen
verbindet er die Strukturexperimente des Neuen Sehens mit seinem am Bauhaus geschulten Gespür für Komposition, Materialbeschaffenheit und Abstraktion.
Von Beginn an wurde die Fotografie selbst als Index oder Spur der Wirklichkeit verstanden, als „Emanation des vergangenen Wirklichen“ (Roland Barthes). So lässt sie Abwesendes anwesend erscheinen, wie auch die Spur eine vergangene Gegenwart präsent werden lässt. Sie verweist auf etwas Fernliegendes, das in ihr aufscheint und nah wirkt. Darin ist ihr auch etwas Rätselhaftes, gar Unheimliches eigen sowie eine Melancholie, die jedes Erinnerungsbild begleitet. In ihren Fotografien erschließen Normand Rajotte und Alfred Ehrhardt eine Bildwelt, die sonst im Verborgenen liegt, sich uns nun aber öffnet und sichtbar wird.
27. Februar bis 24. April 2016
Eröffnung am 26. Februar 2016, 19.oo Uhr
Eröffnungsrede: Dr. Christiane Stahl, Leiterin der Alfred Erhardt Stiftung
ALFRED EHRHARDT STIFTUNG | Auguststr. 75 | 10117 Berlin | +49 (0)30 200953-33, Fax -34 | Öffnungszeiten: Di bis So
11 – 18 Uhr, Do 11 – 21 Uhr | info@alfred-erhardt-stiftung.de